Christina Seidel

Schriftstellerin

Leseproben

Leseprobe aus: „Und für mich ist es das ganze Leben…“ Marie Curie- ihr Leben in Tagebüchern und Briefen

1875

„Man nennt mich Mania. Aber ich heiße Maria. Maria Sklodowska und bin heute acht Jahre alt geworden.“
So hätte Marie einst ihr Tagebuch beginnen können. Hätte sie? Hätte sie.

Sonntag, 7. November, nach meiner Geburtstagsfeier

„Du bist die Hauptperson“, hat Ma gesagt. Ich will keine Hauptperson sein. Ich bin Maria. Alle haben mich angeguckt. Vater und Ma, Großvater und Großmutter, meine vier Geschwister. Ich sollte mich freuen.
Ich habe mich gefreut. Über das Tagebuch. Der Umschlag aus blauem Samt. Das kleine Schloss. Zwei Schlüssel. Die muss ich verstecken. Denn, was man ins Tagebuch schreibt, ist geheim.
Vater hat gesagt: „Schreib ein, was du nicht vergessen willst oder ein kleines Geheimnis.“
Was ich nicht vergessen will? Ich vergesse nichts. Ich kann besser lesen als meine großen Geschwister.
Ich bin genau einen Meter zehn groß, ein bisschen pummlig, sagen sie alle, habe dickes blondes, lockiges Haar, das ich meist mit einem schwarzen Samtband bändige. Meine Augen sind grau, manchmal auch grünlich oder blaugrau. Das ist vom Licht abhängig.
Wo ich geboren wurde? In einer Schule. In einer Schule werden selten Kinder geboren. Aber ich. „In der privaten Mädchenschule, in der Fretastraße 16“, sagt Vater. „Im hinteren Gebäude.“


Leseprobe aus: „Mütter ohne Wert“ Scheidung in der DDR – Frauen berichten

…Ich hab immer im Unterbewusstsein gefühlt, dass ich das nur begrenzt aushalten kann, dass irgendwo eine Entscheidung kommen muss, aber ich traute mich nicht. Ich hatte solche Angst vor der Scheidung, dass er mich dann umbringt oder das Haus anzündet.  Man hatte schon im Stillen gehofft, weil er ja baute, dass ihm mal was passieren würde. Einmal ist er vom Baum gefallen und war verletzt,  wenn er damals gestorben wäre, sagt mein Sohn jetzt, wäre uns viel Ärger erspart geblieben. Drei Trennungsversuche hatte ich unternommen, den ersten, da war Ronald  drei, ich wollte weg, aber mein Mann hat die Tür zugeschlossen, dann gebrüllt, das Kind bleibt bei mir, dann ist er zu den Kirchenleuten und hat ihnen was vorgeheult, er hätte Fehler gemacht, er will sich ändern, er hat schön geschauspielert, die anderen haben ihm geglaubt, meine Stiefmutter sowieso, nach deren Meinung war  ich an allem Schuld. Dann hatte er eine Freundin,  sogar eine Lehrerin, da habe ich gespürt, bevor das Schiff versinkt, musst du schnell raus springen, die Gelegenheit nutzen, egal wies hinterher aussieht, aber so schlimm, wie die  Hölle zuvor, kann es nicht werden …

Clara, Jhg. 31, Künstlerin, 4 Kinder, 5 Enkelkinder,
Begabung am Küchentisch

Wenn die Menschheit nur aus Wunschkindern bestände, dann wäre sie schon längst ausgestorben. Nein, mein Ziel war weiß Gott nicht vier Söhne, mein Ziel war,  meine Begabung zum Beruf zu machen.
Wenn die Kinder erwachsen sind, kannst du ohne Sorgen mit deiner Malerei anfangen, hat er damals gesagt, der spätere Herr Professor. Und ich habe ihm geglaubt. Es dauerte lange, bis sie erwachsen waren. Erst zur Wende waren alle aus dem Haus, ich war 58, Invalidenrentnerin  und hatte kaum Geld verdient.
Als Kind war ich immer mit Klassenspitze und in der Schule ganz schön beliebt.
Einmal bin ich  in der Mathestunde vor Hunger umgefallen, von da an haben mir zwei Freundinnen jeden Morgen zwei Brotscheiben mitgebracht, so sozial waren die Familien damals eingestellt. Ich habe denen dann auch bei den Schularbeiten geholfen. Ich hatte immer Ideen, mich allein zu beschäftigen, hab in der Natur rumgeschnüffelt, alles hinterfragt und dadurch Wissen gesammelt, von anderen, die das beantworten konnten. Die Hausaufsätze hat meine Mutter geschrieben und ich hab immer eine Eins gekriegt. Begabung am Küchentisch war das bei ihr, sie konnte ihre Ambitionen auch nicht umsetzen, musste die Familie versorgen, weil weiblich. Ich hab eine Wut auf diese Konstellation gekriegt.
Im Krieg und auch danach musste ich immer mit für Nahrung sorgen, das war ja das Grundproblem. Wir waren vier Geschwister, ich war die Älteste. Einer meiner  Brüder ist dann gestorben, an Kriegsdiphtherie, so nenn ich das.
Mein Vater hatte drei Einberufungsbefehle, die sind jedes Mal zurückgezogen worden, weil er in einer Munitionsfabrik gearbeitet hatte. Nachher schufteten dort Ausländer als Hilfskräfte, die waren so ausgehungert, da hat mein Vater ihnen von unserem bisschen Nahrung was mitgenommen, heimlich natürlich. Wenn Bombenalarm war, sind sie auf die Felder gerannt, haben sich unter Strohballen versteckt und ringsum flogen die Granatsplitter.
Wir wohnten in einer Siedlung am Rande von S. und blieben wie durch ein Wunder vor Zerstörung im Krieg verschont. Ich hab bei Alarm mit im Keller gesessen und hatte Todesängste. Die Erinnerung an den Krieg ist wie ein  Trauma. Ich kann diese Nachrichten über die ständigen Kriegsschauplätze  nicht mehr ertragen. Zola hatte schon recht  mit der Bestie Mensch oder dem Tier im Menschen.


Leseprobe aus „Und abends kuscheln mit Mama“

Samstag, 16.Februar 2008

Nur vier Kilometer sind es bis Auerbach und noch über eine Stunde Zeit bis zum nächsten Termin. Keine Ahnung, was mich dort erwarten wird.
Auerbach – Stadt der drei Türme. Ich besteige den Schlossturm, will die Stadt von oben sehen. Ich soll mich melden, wenn ich wieder unten  bin, sagt der griechische Gastwirt vom Restaurant neben an, der mir die Tür zum Turm aufschließt.
Ich zähle die Stufen und werde mit weiter Sicht bei wolkenfreiem Himmel belohnt. Als ich mich bei der Schlüsselhoheit zurückmelden will, tanzt der gerade Syrtaki mit einem Gast.
„176 Stufen?“, frage ich etwas unsicher. Er schüttelte den Kopf. „198, Sie  müssen noch einmal hinauf.“ Nun schüttle ich lachend den Kopf. Beim nächsten Mal …
„Die Erschließungsanlage zur Stadt“, so lese ich auf einem Schild und gemeint ist die Treppe, ist leider gesperrt. Nicht weit entfernt eine betreute Wohnanlage „Am Katholischen Berg“.  Gegenüber wird jetzt in Auerbachs Keller chinesisch gekocht.  Bei ehemals Suppina in der Schlossstraße werden nun Knorr –Suppen produziert. Und im Museum auf der anderen Straßenseite läuft bis Ende Februar noch die Weihnachtsaustellung.
14 Uhr stehe ich pünktlich vor einem Haus aus der Gründerzeit. Innen  fehlen Farbe und Reinigung. Ich bin gespannt auf Lusiene-Maries Mama.

„Stillen? Neee!“

Ein junges Mädchen mit vielen Piercing im Gesicht öffnet die Tür.  Wie viele kleine Ringe kann ich auf Anhieb nicht zählen, ohne dass es peinlich werden würde. Ich darf auf einem Plüschsofa Platz nehmen. Die Wohnung ist aufgeräumt und bunt. Auch die geschminkte Oma von Luciene-Marie mit schulterlangen gefärbten blonden Haaren. Sie begrüßt mich und bietet Kaffee an. Als ich mein Aufnahmegerät auf den Tisch lege, sagt sie: „So was müssten wir haben. Bei uns ist abends immer volles Haus. Da kriegt man gar nicht mit, was jeder quatscht. Am nächsten Tag könnt ich’s mir dann in Ruhe anhören.“